Lebensdaten
gestorben um 1200
Beruf/Funktion
Dichter
Konfession
katholisch
Normdaten
GND: 118540947 | OGND | VIAF: 164002565
Namensvarianten
  • Gottfried von Straßburg
  • Straßburg, Gottfried von
  • Gottfried
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Zitierweise

Gottfried, Indexeintrag: Deutsche Biographie, https://www.deutsche-biographie.de/pnd118540947.html [29.03.2024].

CC0

  • Biographie

    G. gehört zu den nicht wenigen Dichtern deutscher Sprache im Mittelalter, deren Persönlichkeit sich einer biographischen Darstellung entzieht, weil historische Überlieferung ihr versagt blieb und die indirekte Erschließung der Person aus dem Werk an diesem zu scheitern verurteilt scheint. Die Aufgabe verliert deshalb nicht an historischem und literaturgeschichtlichem Reiz. Denn über den literarischen wie geistesgeschichtlichen Rang des Werks, das G.s Ruhm begründet, durch das ganze deutsche Mittelalter genährt und seit der Wiedergewinnung des Mittelalters|neu gereift hat, des „Tristan“, ist man sich heute mehr denn je einig, gerade bei kaum mehr aufzulösenden Kontroversen über seinen Sinn.

    Das Zeugnis, das Chroniken, Urkunden, ja bloße Zeugenlisten für Literaten deutscher Sprache im Mittelalter nur dann gewähren, wenn sie mit der schriftlich-lateinisch geführten Verwaltung irgendwie, haupt- oder nebenberuflich oder auch nur am Rande wie Walther von der Vogelweide, in Berührung kamen, schweigt über G. völlig. Es mag das auch am Verlust ihn betreffender Archive liegen. Auf keinen Fall aber gehört er zu der Art von Dichtern deutscher Sprache, deren Hauptberuf sie, als Geistliche wie Ezzo von Bamberg oder als Hofbeamte wie etwa Friedrich von Hausen, ins Licht der Chroniken und Urkunden rückte. Einzig dichtende Nachfolger geben Zeugnis von ihm, und das zeigt, daß er, wie Hartmann von Aue, Wolfram von Eschenbach und andere Dichter im Hochmittelalter, sich einen rein literarischen Namen schuf, analog zu den in der lateinischen Schriftkultur, getragen von Klöstern, Domschulen und Universitäten, verfestigten Namen bedeutender „literati“. G.s Ruhm mag sogar, mehr als der seiner Zeitgenossen, von einem direkten Abglanz solcher „Literatur“ in die Welt höfischer deutscher Dichtung genährt worden sein. Ein einziges Werk macht seinen Ruhm aus, ein Torso sogar, abgebrochen bei 19 548 Versen: die Erzählung in vierhebigen Reimpaaren von Tristan und Isolt. Ob auch ein Spruch vom „Gläsernen Glück“ G. gehört, den die große Heidelberger Liederhandschrift unter dem Namen Ulrichs von Lichtenstein überliefert, den der Dichter, Literaturkenner und G.-Verehrer Rudolf von Ems aber ihm zuschreibt („Alexander“ 20 621 ff.), bleibt unerheblich – so interessant das Thema für das Bild des Tristan-Dichters sein könnte. Was Liederhandschriften mit seinem Namen bezeichnen, Strophen von Minne, der Jungfrau Maria, von Armut, ist mit Sicherheit unecht und spät, von seinem Ruhm angelockt.

    Den Tristan-Dichter aber nennen die Nachfahren, auch die zwei Fortsetzer seines Torsos, Ulrich von Türheim um 1230 und Heinrich von Freiberg um 1290, als „meister Gottfried von Straßburg“. Da auch die Frühüberlieferung des „Tristan“ bis zu der ältesten (Münchener) der rund 25 erhaltenen Handschriften und Fragmente durch Friedrich Ranke mit guten Gründen in Straßburg, vielleicht bei dem „notarius burgensium“ „meister Hesse“, lokalisiert wird, dürfen wir die Bischofstadt zum Herkunftsnamen hinzu auch als Wirkungsstätte G.s annehmen. Doch bleibt es beim Namen. Ohne Spur von seinem Umkreis, von Tätigkeit, Stellung, Amt, ohne zeitgenössische Hinweise auf Pflege und Funktion deutscher Literatur in Straßburg am Bischofshof, bei der Stadt oder beim Adel, wissen wir von G.s Wirkungskreis auch in literarischer Hinsicht weit weniger als von Heinrich von Veldeke, Wolfram von Eschenbach, Walther von der Vogelweide, Morungen, Reimar am Thüringer Hof oder in Wien, fast so wenig wie von Hartmann von Aue, wo der Ortsname überhaupt nicht weiterhilft. Das ändert zwar nichts an dem dichten Netz deutsch-literarischer Beziehungen und Auseinandersetzungen, in denen gerade G. selbst sich sieht (siehe unten). Aber es zeigt, daß auch diese so selbstbewußte ritterliche Klassik über keinen festen Sitz im Leben verfügte, ja gerade – wie hohe Dichtung aller Zeiten – aus diesem Mangel einen Teil ihrer Thematik bezog, soziologisch am sichtbarsten bei dem Sänger Walther von der Vogelweide, thematisch auch bei den Epikern Wolfram von Eschenbach („schildes ambet ist min art“ – gegen die „Literaten“ gesagt) und G. (Ausgeliefertsein der absoluten Minne in der Gesellschaft).

    Der Titel „meister“, den die Nachfahren G. beilegen, schwebt in seiner Bedeutung zwischen den Extremen einerseits des gelehrten Klerikers, des lateinischen „magister“, womöglich an den Schulen in Paris gebildet, andererseits des epigonischen deutschen „Meisters“ im Sinn der Meistersinger des 14. und 15. Jahrhunderts. Man wird am ehesten an die Bedeutung anknüpfen können, die G. selbst in der „Literaturstelle“ seines „Tristan“ (4589-4960) dem Wort beilegt anläßlich Heinrichs von Veldeke (4736): „meister“ der hochmittelalterlichen literarischen Kunst von Sinn und Form, an griechischer Dichtungsmythologie gemessen, angewandt auf Erzähler wie Veldeke und Hartmann von Aue, mit einem Gegenbild, das wohl Wolfram von Eschenbach meint. Über seinen Stand ist damit zunächst nichts gesagt. Nur aus dem Fehlen eines Adelstitels schließt man, wohl mit Recht, daß G. nicht zum Ritterstand gehörte. Wes Standes er dann war, läßt sich auch aus inneren Gründen, aus der sachlichen oder stilistischen Besonderheit seiner Erzählung, nicht mit Sicherheit kombinieren.

    Damit sind wir schon aus dem literarischen Echo auf G.s Werk in seine eigenen Selbstaussagen in diesem Werk, dem „Tristan“, hineingeglitten. Sie fast allein müssen einstehen für unser Bild von ihm. Aber sie sind von ihm selbst, wohl bewußt, so verschlüsselt worden, daß sie bis heute unlösbaren Rätseln gleichen. Das gilt schon vom künstlichsten Teil dieser Selbstaussage. Der Prolog zum „Tristan“, der kunst- und moralphilosophisch mit den Versen beginnt:

    Gedaehte man ir ze guote niht,
    von den der werlde guot geschiht,
    so waerez allez alse niht,
    was guotes in der werlde geschiht –

    dieser Prolog ist durch zehn gleichgebaute „Strophen“ hindurch mit dem Akrostichon G DIETERICH geschmückt. Dieterich dürfte der Name des Gönners oder Auftraggebers sein, dem damit das Werk gewidmet wird – wir können ihn nicht identifizieren; G mag für Gottfried stehen, aber auch für den Titel „Graf“ des Gönners. Von der 11. und letzten „Strophe“ des Prologs an ziehen sich durch das Werk, auf charakteristische Gliederungsstellen verteilt (Anfang und Ende der folgenden Vorrede, Tristans Geburt Ende, Schwertleite Ende, Minnetrankszene Ende), ebenso gebaute „Strophen“, die mit ihrer Umgebung weitere Akrosticha entfalten. Da G. sie offensichtlich in der Fortsetzung des abgebrochenen Werks oder bei einer späteren Überarbeitung zu Ende zu führen gedachte, sind sie nicht mit Sicherheit aufzulösen. Doch die, gemäß dem Thema des Werks (130) vielfach ineinander verschlungenen, Namen TRIS(tan) und ISOL(…) sind deutlich.

    Über seine Person, seinen Beruf, seine Umgebung macht G., anders als die Epiker Hartmann von Aue, Wolfram von Eschenbach oder gar der Sänger Walther von der Vogelweide, keinerlei Aussagen oder Anspielungen, weder im Prolog noch im Lauf der Erzählung, so freigiebig er sonst mit dem „ich“ der Selbstaussage umgeht. Vielleicht hätte er sich im Epilog enthüllt, wenn er das Werk zu Ende geführt hätte, wie es sein Nachfolger Rudolf von Ems in seinem Erstling, dem „Guten Gerhard“, tut. Warum G.s Tristan abbricht, mitten in der Exposition eines dritten Teils mit ganz neuer Konstellation (siehe unten), sagen seine Fortsetzer eindeutig: der Tod hat ihm die Feder aus der Hand genommen. Wir haben mehr Beispiele solcher Abbrüche, etwa die Kaiserchronik oder den Perceval des Chrétien de Troyes oder Wolframs Willehalm, deren Umstände wir ohne näheren Einblick in Tempo und Arbeitsweise der literarischen Produktion im Mittelalter, vor allem in den Volkssprachen, schwer nachvollziehen können. Man hat auch mehrfach daran gedacht, G. habe freiwillig sein Werk liegen lassen, sei es wegen einer Sinneswandlung, sei es, weil die von der Vorlage gegebene Fortsetzung nach seinem Sinn nicht zu gestalten war und er lieber den Torso als Ganzheit seiner Aussage stehen ließ. Doch eben die Auslegung dieses Sinns bleibt für uns so fraglich, daß daraus nicht wohl ein solches Argument gezogen werden darf; und die traditionelle Art literarischer Quellenbenutzung wie die überlieferte Gestalt des Torsos (die unvollendeten Akrosticha zum Beispiel) sprechen dagegen.

    Da uns weder von außen noch in G.s Werk eine Spur absoluter Chronologie gewährt wird, sind wir auf die relative Chronologie angewiesen. Da ist nun G. selbst mit Aussagen recht freimütig, zumindest in der schon erwähnten Literaturschau, einer Beurteilung zeitgenössischer Konkurrenten um den Dichterlorbeer. Den Epiker Heinrich von Veldeke und den Minnesänger Reimar, den er aber nur als „die Nachtigall von Hagenau“ anführt, beklagt er als Tote; Hartmann von Aue, der Freiherr Bligger aus dem oberrheinischen Neckarsteinach und Walther von der Vogelweide leben ihm noch. Wieweit gerade diese Namen durch landschaftliche Nähe (Bligger! Reimar, Hartmann?), womöglich durch engere literarische und sogar persönliche Beziehungen für ihn nahelagen, entzieht sich unserem Wissen. Jedenfalls sind die genannten Epiker und Minnesänger – außer Bligger, sofern die Überlieferung recht hat – zugleich die bedeutendsten der Zeit auch nach unserem Bild. Es fehlte da höchstens der thüringische Minnesänger Heinrich von Morungen; aber da G. auch keinen der älteren oberrheinischen Minnesänger nennt, mag das an seiner bewußten Abgrenzung von dieser Gattung liegen, und Reimar und Walther allein wären dann am ehesten aufgrund persönlicher Beziehungen und als besondere Konkurrenten in ihrem Fach genannt. Es ergibt sich so nur ein allgemeinstes Datum: circa 1200 bis circa 1210, weil auch für die Genannten die absolute Chronologie nicht mehr hergibt und die relative kontrovers blieb.

    Nicht genannt, aber mit Sicherheit gemeint – vielleicht ist die ganze „Literaturschau“ darauf zugeschnitten –, und zwar mit einem erschreckenden Ausmaß von literarischer Kritik, ja persönlicher Feindschaft, ist in den Versen 4637-90 der Zeitgenosse, der auch für uns als Epiker zwar gegensätzlich, aber nach Wert und Sinn seines Werkes ebenbürtig um die Dichterkrone seiner Zeit ringt: Wolfram von Eschenbach. Es ist einigermaßen wahrscheinlich, daß auch er an verschiedenen Stellen seiner Werke (vor allem „Willehalm“ 4, 19 ff., vielleicht im „Parzival“ 114, 5 ff. und andere) G. angreift oder ihm entgegnet. Grund und Art dieser Konkurrenz um alles, um Sinn und Form ritterlich höfischer Erzählung, sind sicherlich schon aus der völlig entgegengesetzten Art und Tendenz in beider Lebenswerk abzulesen: bei Wolfram mythisch oder leidensselig religiöse Überhöhung der ritterlichen Aventiure und Minne, sehr persönlicher und fast barocker Stil – bei G. absolute, aber irdisch realistische Steigerung der Aventiure und Minne, höchste geschmeidige und rhetorisch gesättigte Sprachmelodie. Aber alle Einzelheiten der Auseinandersetzung und damit auch ihre Chronologie bleiben, trotz darauf verwendeten großen Scharfsinns gerade in unseren Tagen, doch ganz unsicher.

    Hier sind wir mitten in G.s Werk. Aber gerade da, so scheint es, versagt er sich uns am gründlichsten. Das Urteil der Forscher und Liebhaber schwankt zwar nicht mehr zwischen Dégout über die ehebrecherische, sinnliche, wollüstig aufgeputzte Geschichte - und ihrer rein ästhetischen Bewunderung. Über G.s künstlerische Vollendung und gedankliche Kraft gibt es heute nur eine Stimme, und es bedarf auch nicht mehr Richard Wagners, um G.s Tristanliebe ein überzeitliches Echo zu erwecken. Aber ihr geistiger Ort und ihr Ziel, und damit auch das Herzblut des Dichters, das er nach eigener Aussage eben dahinein verströmt hat, das scheint noch uns so unfaßbar, wie schon im Mittelalter auch für seine Bewunderer und Nachahmer. Tristans Lebensweg ist der Weg, durch Tapferkeit, Bildung, musikalisches Künstlertum und List geführt ins Recht auf ihren Besitz, zu „der minnen vederspil“ Isolt; die Vereinigung durch den Zufall des Zaubergifts, des Minnetranks, begründet ihre Liebeseinheit gegen Recht und Sitte, die sowohl ehebrecherisch unter den Augen des Königs Marke und seines Hofs, wie dann (das hat G. nicht mehr zu Ende gedichtet) durch die räumliche Ferne und die bittersüße Ehe Tristans mit Isolde Weißhand hindurch zum Liebestod leitet. Diese Geschichte keltischen Ursprungs, schon in den (nur aus Bruchstücken zu erschließenden) französischen Vorstufen von unheimlicher, sowohl archaischer wie fast thesenhaft programmatischer Stoffgewalt, wird von G., nach der psychologisch durchweg verfeinerten französischen Fassung des Thomas von Britannien (von der uns auch nur Teile erhalten sind, und zwar gerade aus dem bei G. fehlenden Schluß), weitergetrieben zur konsequentesten Einheit von Stoff, Sinn und Form. Daß sie durchzogen ist von der Melodie von Liebe und Tod, daß sie die Liebe gestaltet zugleich als dämonische Naturmacht auf Leben und Tod wie als höchsten Anruf zur Persönlichkeitsgestaltung „edeler herzen“ in Lust und Leid, im Leben und über den Tod hinaus, darüber gibt es keine Diskussion. Wo aber steht der Dichter?

    Man kann, um noch einmal von außen zu beginnen, aus seinem Werk, sofern man seine Vorlage und auch sein Abweichen von ihr berücksichtigt, auf Tatsachen seiner Bildung und seiner Einstellung schließen: 1. eine bewußte literarische Rhetorik sowohl aus deutscher wie aus gründlicher französischer Literaturkenntnis wie sicher auch aus lateinischer Bildung bis hin zum griechischen Dichtermythos, von dem er aber seine allegorisch mittelalterliche Sinngebung ebenso bewußt abhebt – 2. eine bewußt ausgespielte Kenntnis ritterlich höfischer Jagd-, Kampf- und Gesellschaftsregeln (mit einem besonderen Blick für Fremdes, Fernes), die er aber ebenso souverän schildern wie beiseitelegen kann – 3. ein besonderes Interesse für Rechtsfälle, mit mittelalterlich geschichtlicher Vertiefung in die Römersage, getrieben bis zur Problematik des Gottesgerichts im Zweikampf (Tristan-Morolt) oder mit dem glühenden Eisen (Isolt), eine Problematik, die er mit dem berüchtigten Wort vom „vil tugendhaften Christ“, der als Helfer beim „gelüppeten“ Eid Isolts zur Abschwörung des Ehebruchs „wintschaffen als ein ermel ist“ (15736), vielleicht häretisch, vielleicht ironisch, vielleicht tragisch (noch hat es niemand ergründet) auf die Spitze treibt – 4. eine immer bereite sententiöse Kommentierung kleiner und großer Dinge, die das menschliche Herz vor allem nüchtern bloßlegt, aber nirgends höchste Forderungen preisgibt – und schließlich 5. in einer Reihe von langen Exkursen ebenso nüchterne und meist trübe Zeitklagen als „laus temporis acti“, Lob einer Idealwelt reiner Werte, an der G.s Herz und Verstand sich entzündet, die auch in der Minnegrotte (16679-17274) durch allegorische Tempel- und Natur- und Liebes-Unio-Deutung zur Gestalt wird. Das Bild der Bildung G.s, das sich so ergibt, zeigt im gelehrten und souveränen Dichter und Literaten auch den tiefblickenden Psychologen und das edle, ans Absolute verlorene Herz. Nur – an welche Zeitlage, an welche geschichtlichen Umstände anzuschließen? Steht er direkt im Strom bernhardischer Mystik, oder in der schon und gerade in Straßburg beginnenden religiös-mystischen Bewegung „freier Geister“, oder gar in Zusammenhang mit häretischer, neudualistisch-katharischer Apostasie? Oder steigert er, den Dualismus zwischen Welt der „edeln Herzen“ und Welt der „Vielen“ zwar ins Tragische vertiefend, doch nur die bei Chrétien de Troyes und Hartmann von Aue entwickelte neue Ethik von Rittertum und Minne ins Absolute (ähnlich wie es etwa lateinisch scholastisch – und am Ende mit der vom Geistlichen zu erwartenden revocatio! – für|die Minne als gesellschaftliche Institution in „De Amore“ von Andreas Capellanus geschah)? Werden dann auch von ihm Grundelemente christlicher Persönlichkeitsethik, vor allem der mystische Gedanke der absoluten Hingabe, aber in nur formaler Analogie, aus weltlicher Liebes-Unio entwickelt? Oder sieht er, bei allerfeinstem Blick für solche Hingabe, sie doch schon mit den Augen des skeptischen Weisen an, dem Liebesleid und Liebestod als Sold für Liebeslust gelten? Diese, hier nur anzudeutenden Fragen spalten gerade heute die germanistische Forschung und scheinen einer Lösung ferner denn je. Dabei betreffen sie ja nicht nur den geschichtlichen Hintergrund, dessen Kenntnis zwar historisch wichtig ist, sondern den innersten Zusammenhang zwischen Dichter und Werk und damit, gerade hier, angesichts unserer Ferne vom Mittelalter, den Kern und überzeitlichen Sinn des Werks.

    Eine Entscheidung ist an dieser Stelle nicht zu treffen. Es muß genügen, die Persönlichkeit des großen deutschen Dichters G. so zu sehen, daß zwar künstlerischer Reichtum und Tiefe des Liebesproblems, daß sogar allgemeine literarische Zeitstelle und überzeitlicher Wert zu greifen sind, ohne daß die letzte Schicht von Persönlichkeit und Werk enthüllt werden kann. Für ihre Erkenntnis mag vielleicht eine Seite gerade des mittelalterlichen Werks und Menschen noch fruchtbarer werden, als es bisher geschehen ist: die Kraft des Stoffes, die schon in den einzelnen Motiven, zwischen Schwankhaftem und Tragischem, zwischen hart Archaischem und psychologisch Modernem schwebend, viele Schichten der unerschöpflichen Liebe schier unauflöslich verdichtet und in einer älteren französischen Gestaltung, greifbar bei Gottfrieds deutschem Vorläufer Eilhart von Oberg, schon einmal hohe symbolkräftige Einheit erreicht haben muß. G. war, wie er selbst betont, zuallererst von diesem besonderen Stoff fasziniert und fand, nach langem Suchen, dann die seiner Deutung gemäße Vorlage (130–166). Vieles, was uns heute dunkel oder unverständlich an seiner Persönlichkeit bleiben muß, läßt sich ja nicht historisch, psychologisch, literarhistorisch auflösen. Es steckt mit seinen Wurzeln im Überpersönlichen, im Stoff mit seinen breiten und tiefen Anklängen, Gefühls- und Erlebnisschichten. Wer sie zu neuem Leben wecken könnte, käme auch an die von der Geschichte unbeleuchtete Seite der Persönlichkeit G.s näher heran.

  • Auszeichnungen

    Ausg. v. F. Ranke, 1930, verb. Aufl. v. E. Studer, 1958.

  • Literatur

    L Biographisches u. Allg.: ADB 36;
    H. de Boor, in: Die Gr. Deutschen V, 1957, S. 57-65;
    ders., Gesch. d. dt. Lit. II: Die höf. Lit., ⁴1960, S. 127-45 (bibliogr. Nachtrag S. 438 f.);
    C. Wesle, in: Vf.-Lex. d. MA II, Sp. 64-75;
    W. J. Schröder, ebd. V, Sp. 271-72;
    Ehrismann II, S. 297-336;
    J. Schwietering, Die dt. Dichtung d. MA (Hdb. d. Lit.wiss.), 1940, Nachdr. 1957, S. 183-94;
    H. Schneider, Heldendichtung, Geistlichendichtung, Ritterdichtung, ²1943, S. 312-27;
    H. Kuhn, in: Ann. d. dt. Lit., ²1962, S. 167-71;
    H. Fromm, Zum gegenwärt. Stand d. G.-Forschung, in: DVjS 28, 1954, S. 115-38;
    G. Weber, G. v. St., Slg. Metzler, 1962. - Zur Stoffgesch.: G. Schoepperle, Tristan and Isolt, A Study of the Sources of the Romance, 2 Bde., 1913, ²New York 1960 (erweitert um Bibliogr. u. e. krit. A. üb. d. Tristan-Forschung seit 1912 v. R. Sh. Loomis);
    F. Ranke, Tristan u. Isold, 1925;
    B. Mergell, Tristan u. Isolde, Ursprung u. Entwicklung d. Tristansage d. MA, 1949;
    L. L. Hammerich, Tristan og Isolde før G. af St., Kopenhagen 1960. -Unterss.: J. Schwietering, Der „Tristan“ G.s v. St. u. d. Bernhard. Mystik, in: Abhh. d. Preuß. Ak. d. Wiss., phil.-hist. Kl. 5, 1943 (wieder in: ders., Mystik u. höf. Dichtung im Hoch-MA, 1960, S. 1-35);
    G. Weber, G.s v. St. „Tristan“ u. d. Krise d. hochma. Weltbildes um 1200, 2 Bde., 1953;
    A. T. Hatto, Der minnen vederspil Isot, in: Euphorion 51, 1957, S. 302-07;
    W. Mohr, „Tristan u. Isold“ als Künstlerroman, ebd. 53, 1959, S. 153-74;
    P. W. Tax, Wort, Sinnbild, Zahl im Tristanroman, Stud. zum Denken u. Werten G.s v. St., 1961;
    F. Neumann, Warum brach G. d. Tristan ab?, in: Festgabe f. U. Pretzel, 1963, S. 205-15;
    J. Fourquet, Le cryphogramm du Tristan et la composition du poème, in: Etudes Germaniques 18, Paris 1963, S. 271-76.

  • Porträts

    vom sog. Grundstockmaler in sog. Manesse Hs., Zürich Anfang 14. Jh. (Heidelberg, Univ.bibl.), Faks.-Ausg. 1926, Abb. b. Wilpert, Literatur in Bildern.

  • Autor/in

    Hugo Kuhn
  • Zitierweise

    Kuhn, Hugo, "Gottfried" in: Neue Deutsche Biographie 6 (1964), S. 672-676 [Online-Version]; URL: https://www.deutsche-biographie.de/pnd118540947.html#ndbcontent

    CC-BY-NC-SA

  • Biographie

    Straßburg: Gottfried von St., neben Hartmann von Aue und Wolfram von Eschenbach der dritte große Meister auf dem Gebiete der höfisch-ritterlichen Epik. Wie bei so vielen mittelalterlichen Dichtern fehlen auch über ihn historische Nachrichten; dafür sagen uns zahlreiche litterarische Zeugnisse, die sich zum Theil durch eine ungewöhnliche Wärme und Innigkeit auszeichnen, daß er bei den zeitgenössischen und nachkommenden Dichtern in hohen Ehren stand; und aus der stattlichen Fülle der in verschiedenen Dialekten abgefaßten und vom 13. bis zum 15. Jahrhundert sich erstreckenden handschriftlichen Ueberlieferung seines „Tristan“ erkennen wir seine allgemeine und lange andauernde Beliebtheit. In diesem seinem Hauptwerke finden sich bestimmte Beziehungen zu seinen äußeren Lebensschicksalen nicht; nur wenige, für uns dunkle Andeutungen lassen Persönliches hindurch schimmern. Aus dem Mangel an Klagen über Armuth und über Kargheit der Gönner, die uns sonst so oft entgegentönen, dürfen wir auf seine günstige Lebenslage schließen. Eine persönliche, aber unbestimmte und darum dunkle Beziehung bietet sich gleich im Beginne seines „Tristan“ dar: in einem Akrostichon. Die Anfangsbuchstaben der neun Anfangsstrophen ergeben mit Ausnahme der ersten Strophe den Namen Dieterich, wahrscheinlich der Name eines Gönners, dem die Dichtung gewidmet sein soll. Der erste Initial ist G. Wenn er nicht auf Gottfried geht, so drückt er vielleicht den Titel des Gönners, also grâve, aus. Die folgenden Anfangsbuchstaben sind T und I, die wohl ohne Zweifel auf Tristan und Isolde bezogen werden können. Der Beiname: von Straßburg läßt zunächst an die berühmte Bischofsstadt am Rheine denken. Der Annahme der elsässischen Heimath würde die Sprache des Dichters nicht entgegenstehen, und so gilt diese Annahme als ausgemacht. Wenn, von dieser Voraussetzung ausgehend, Konrad Burdach (s. A. D. B. XXVIII, 93) darauf hinweist, daß G. wahrscheinlich durch landsmannschaftliche Beziehungen in den Stand gesetzt sei, ohne von seinem elsässischen Zuhörerkreise mißverstanden zu werden, den gewöhnlich nur „Reinmar“ genannten Sänger in der litterarischen Stelle im „Tristan“ als „die Nachtigall von Hagenau“, also lediglich nach seiner (elsässischen) Herkunft zu bezeichnen, so kann nun umgekehrt diese Benennung für Gottfried's elsässische Heimath und für das elsässische Straßburg in seinem|Beinamen geltend gemacht werden, und um so mehr, als über Hagenau kaum ein Zweifel besteht. Der Titel Meister, der dem Dichter vielfach gegeben wird, kann nicht schlechthin als Bezeichnung für den bürgerlichen Stand genommen werden. Es ist wohl möglich, daß G. wenigstens für einen Bürgerlichen gegolten hat, weil seinem Bilde in der Pariser, jetzt wieder Heidelberger, Liederhandschrift kein Schwert, kein Helm und kein Wappenschild beigegeben ist. Dazu kommt, daß er in dieser Handschrift unter bürgerlichen Dichtern eingereiht ist. Der Titel Meister bezeichnet aber auch den gelehrten Stand. Und gelehrt war G. im Sinne seiner Zeit: er konnte lesen, er verstand sich auf Lateinisch und Französisch; an Stellen, die er selbständig ohne Anlehnung an eine Vorlage schuf, zieht er die antike Mythologie heran, auch benutzt er im „Tristan“ einige Male Sentenzen des Publilius Syrus. Auch in einem Spruchgedichte, das ihm auf Grund eines litterarischen Zeugnisses zuerkannt werden muß, finden wir eine Paraphrase eines Ausspruchs dieses Gnomikers. Daß ihm die Zeitgenossen auch Gelehrsamkeit zugestanden, scheint die Bezeichnung der wîse Gotfrit anzudeuten, die er öfters gleich andern schulmäßig gelehrten Dichtern erhält. Die Gelehrsamkeit des Dichters könnte seinen geistlichen Stand vermuthen lassen, wenn nicht antihierarchische Aeußerungen im „Tristan“ vorkämen, die nur ein Laie thun konnte. Im übrigen würde die Behandlung eines Liebesromans auch einem Cleriker nicht unangemessen und unerlaubt gewesen sein.

    Einiges lesen wir doch noch für die Biographie des Dichters aus seinem „Tristan“ heraus. Er war ein scharfer Kritiker seinem von ihm selbst gewählten Stoffe, dem Publicum und seinen Dichtergenossen gegenüber. Die berühmte litterarische Stelle, in der er die hervorragenden Dichter, vor allen die Epiker, gleichsam Revue passiren läßt, in der er neben dem Lobe, das er Hartmann dem Auer, v. Steinahe Bliker, v. Veldeken Heinrich, der Nachtigall von Hagenau und der von der Vogelweide in reichem Maaße spendet, auch einen strafenden Seitenblick auf Wolfram v. Eschenbach wirft, ohne ihn mit Namen zu nennen, diese Stelle gibt den sichersten Anhalt zur Datirung des „Tristan“, der schon auf die Sprache und die Form hin, der classischen Zeit des Mittelhochdeutschen zugewiesen werden müßte. In runder Zahl ergibt sich als Entstehungszeit das Jahr 1210. In ganz jungen Jahren kann der Dichter dieses Werk nicht verfaßt haben. Dazu ist dessen Form zu vollendet, ist des Dichters Stil zu ausgeprägt. Auch die kritische Betrachtungsweise, die humorvolle Beleuchtung einzelner Situationen deuten auf einen herangereiften Mann, wie jugendlich feurig auch die Darstellung, zumal der Liebesscenen, gehalten ist. Die beiden jüngeren Dichter, Ulrich von Türheim und Heinrich von Freiberg, die Gottfried's unvollendeten „Tristan“ fortzusetzen und abzuschließen unternahmen, berichten übereinstimmend, daß der Tod den Meister vor der Zeit hinweggerufen habe. Diese Nachricht ist glaubwürdig, und doch ist sie einmal bezweifelt worden. Und dieser Zweifel, mit einer unhaltbaren Hypothese verbunden, hat wieder zu einem für die Biographie belangreichen Ergebnisse geführt.

    Die Pariser (große Heidelberger) Handschrift enthält unter Gottfried's Namen einen umfangreichen Lobgesang auf die Jungfrau Maria, der sich auch ohne Namen zum theil in zwei anderen Handschriften findet, und ein Lied von der geistlichen Armuth. Der grelle Gegensatz, in welchem der Tristan und der Lobgesang zu einander stehen, führten J. M. Watterich (1858) zu der ausgleichenden Annahme, G. habe, bevor er den Lobgesang gedichtet, mit seinem früheren Leben völlig gebrochen, habe die Vollendung des Liebesromans unterlassen, habe einen Kreuzzug mitgemacht und sei, was das Lied von der Armuth beweisen dürfte, in den Orden des heiligen Franciscus von Assisi eingetreten, ja sei wahrscheinlich von diesem selbst unter seine Jünger aufgenommen worden. Dieser kühnen Hypothese suchte Franz Pfeiffer die Grundlage unter den Füßen wegzuziehen, indem|er, gestützt auf Vers und Reim, den unwiderleglichen und auch niemals widerlegten, allgemein anerkannten Beweis führte, daß G. weder den Lobgesang noch das Lied von der Armuth gedichtet haben könne. Durch diesen Beweis wird der Kreis der lyrischen Schöpfungen, die G. zugeschrieben werden, wesentlich beschränkt. Es bleibt noch ein von der Pariser und der älteren Heidelberger Handschrift unter seinem Namen überliefertes „Frühlingslied“ übrig, an dessen Echtheit im Ganzen nicht zu zweifeln ist. Für den Ausfall jener beiden geistlichen Gedichte wird ein kleiner Ersatz geboten, indem auf ein glaubwürdiges Zeugniß Rudolf's v. Ems hin dem Dichter zwei Strophen lehrhaften Inhalts zuerkannt werden dürfen, die in der Pariser Handschrift unter die Lieder Ulrich's von Liechtenstein eingereiht sind, aber in dessen Frauendienste fehlen.

    Watterich's Hypothese hat keinen Anklang gefunden; die siegreiche Entgegnung Pfeiffer's erfolgte sofort. Dagegen hat eine ebenfalls unhaltbare Anschauung längere Zeit bestanden, daß G. Stadtschreiber von Straßburg gewesen sei. Hermann Kurz suchte mit Anknüpfung an einen wie es schien sichern urkundlichen Nachweis eines Godefredus Rodelarius de Argentina vom Jahre 1207 näheres über das Geschlecht und das Leben des Meisters G. v. Straßburg zu erkunden. Er sieht in jenem Godefredus und in unserm Dichter ein und dieselbe Person; die seltsame Wortstellung faßt er auf als Godefredus de Argentina, Rotularius. Rotularius kann nur der Stadtschreiber sein; de Argentina geht auf eine von Basel nach Straßburg verzweigte adelige Familie von Straßburg. Hiermit steht im Einklange die Gelehrsamkeit des Dichters und der Titel Meister. Alle diese ansprechenden und annehmbaren Folgerungen mußten hinfällig werden, nachdem der Beweis erbracht werden konnte, daß in jener Urkunde thatsächlich nicht Rodelarius, sondern Zidelarius geschrieben steht, und dies ist der in Straßburg öfter vorkommende Name Zidelare, Zidler, Zeidler (Bienenwirth). C. Schmidt, dem wir diese Berichtigung verdanken, vermag nicht zu entscheiden, ob dieser Name ein bloßer Zuname war oder ein bischöfliches Amt bedeutete. Im übrigen darf von Kurz' Darlegungen als beachtenswerth bezeichnet werden, daß er jenen Gönner Dietrich als Angehörigen einer burggräflichen Familie von Straßburg entdeckt zu haben glaubt. Auch sein Hinweis auf die Kanonisation der heiligen Kunigunde vom 3. April 1200 und an das grausame Ketzergericht zu Straßburg vom Jahre 1212, an welche Begebenheiten der Dichter bei der Darstellung der Gottesgerichtsscene gedacht zu haben scheine, verdient im Auge behalten zu werden.

    Nachdem nun auch das Stadtschreiberamt für G. verloren gegangen ist, so gilt aufs neue, was Pfeiffer am Schlusse seiner Polemik gegen Watterich's Hypothese ausgesprochen hat: „über dem Leben des großen Dichters waltet das frühere undurchdringliche Dunkel“. — Dafür hat die geistige Bedeutung des Dichters und die litterarische Stellung seines „Tristan“ — denn die wenigen lyrischen Schöpfungen kommen nicht in Betracht — die Forschung der letzten Zeit angereizt und beschäftigt.

    Zwar fehlt es noch an einer zusammenfassenden Monographie über Gottfried's Metrik, doch haben die litterargeschichtlichen Darstellungen wie die Einzelstudien über seinen Stil auch seiner Vers- und Reimbehandlung Beachtung geschenkt. G. kann als Schüler Hartman's von Aue bezeichnet werden, ohne Zweifel hat er sich aber auch unmittelbar an der französischen Kunstepik gebildet. Was ihm vorbildlich gegeben war, gestaltete er eigenartig weiter aus. ja seine Dichtersprache spitzt sich öfters zur Manier zu. Burdach glaubt, daß G. der Epiker auch von dem Lyriker Reinmar dem Alten gelernt habe, psychologisch zu zergliedern. Dieser Gedanke verdiente im Einzelnen ausgeführt zu werden. Wir würden nach dieser Richtung hin bestimmter urtheilen können, wenn uns das französische Original, nach dem G. arbeitete, vorläge. Wir müßten auch ohne des Dichters eigenes Bekenntniß, daß er einem Thomas von Britannie folge, auf ein französisches|Vorbild schließen, wie auch der erste deutsche Tristandichter, Eilhart van Oberge, seinen Stoff aus einem französischen Romane genommen hat. In der That kennen wir einen französischen Tristandichter mit Namen Thomas, dessen Werk aber leider nur in Bruchstücken vorliegt. Seltsamer Weise beginnen diese Fragmente gerade da, wo Gottfried's Erzählung abbricht. Nur in einem kleinen Stückchen zeigt sich Uebereinstimmung. Die Sagentradition, die G. im Gegensatze zu der des Eilhart wählte, findet sich auch in dem englischen, in Strophenform abgefaßten Gedichte Sir Tristrem, das unter dem Namen eines Thomas von Erlceldoune geht. Wichtiger für uns ist aber ein nordischer Prosaroman von Tristan aus dem 15. Jahrhundert, der höchst wahrscheinlich, ja selbst zweifellos aus demselben französischen Tristanepos übersetzt ist, das G. vor sich gehabt hat. Gewährt diese nordische Sage in prosaischer Gestalt und aus jüngerer Zeit auch kein vollkommen getreues Abbild des französischen Originals, so läßt sich doch an ihr wenigstens annähernd erkennen, wie G. verfuhr und schuf. Wie seine Dichtergenossen in der Regel, folgt auch er treu und pietätvoll seiner Quelle, aber seine Treue ist nirgends sclavisch. Seine Darstellung zeigt uns nicht bloß einen Uebersetzer, sondern einen freien Künstler. Aber auf der andern Seite müssen auch manche Vorzüge der Composition und der Charakterzeichnung dem französischen Originale zuerkannt werden.

    Der „Tristan“ mit seiner formvollendeten und glanzvollen Sprache wird schwerlich das einzige Werk Gottfried's sein. Eine solche dichterische Reife setzt jahrelange Uebung voraus. Der unter Gottfried's Namen überlieferte Lobgesang, dessen Verfasser die Manier des großen Dichters bis zur Caricatur übertreibt und entstellt, wie auch das Lied von der Armuth bieten uns vielleicht eine Andeutung, daß sich G. auch auf dem Gebiete der geistlichen Liederdichtung versucht habe. In einer Würzburger Handschrift wird eine kleine Erzählung, die erweislich Konrad von Würzburg zugehört, fälschlich mit Gottfried's Namen geschmückt. Sollte das nicht ein Hinweis sein, daß G. auch solche kleine Erzählungen, Novellen, sogenannte Mären, ohne seinen Namen gedichtet hat? Und was soll es bedeuten, wenn Rudolf von Ems von ihm rühmt, er habe es verstanden getihten krümbe zu slihten? Gewiß werden manche namenlos überlieferte Dichtungen, die wir jetzt seiner Schule zuzuschreiben geneigt sind, oder auch manche andere, die einem andern bestimmten Autor von den Schreibern und auch von den Herausgebern zugetheilt werden, von G. selbst herrühren, aber bis jetzt hat sich die Forschung dieser wichtigen und verheißungsvollen Frage noch nicht zugewandt.

    Mit Gottfried's frühzeitigem Tode war seine Wirksamkeit nicht erloschen. Sein unvollendetes Meisterwerk wurde, wie bemerkt, von zwei Epigonen fortgesetzt. Beide folgten aber nicht der von G. gewählten Tradition, sondern einer andern, die der Eilhartischen verwandt ist. Im einzelnen stimmen die beiden Fortsetzungen stofflich nicht zusammen. Auch eine seltsame dritte Fortsetzung ist vorhanden, die ganz aus dem Rahmen der Tristansage heraustritt und mehr eine Farce ist als eine Sage. Sie mündet in die Fortsetzung Ulrich's von Türheim vor deren Schlußscene ein. Vielleicht hat es noch eine vierte Fortsetzung zu Gottfried's unvollendetem „Tristan“ gegeben. Wir besitzen ein kleines Fragment einer Tristandichtung noch aus dem 13. Jahrhundert in niederrheinischem Dialekte, das eine Scene aus dem letzten von G. nicht mehr behandelten Theile der Erzählung enthält, und zwar nach der Tradition des Thomas. Es liegt näher, dies Fragment einer Fortsetzung Gottfried's zuzuweisen als einem vollständigen Tristanepos zeitlich nach G. Auch über das deutsche Land hinaus war Gottfried's Werk von Einfluß. Im čechischen Tristram ist der größere Theil nach Eilhart gearbeitet, ein Stück in der Mitte nach G., der Schluß nach Heinrich von Freiberg.

    Wenn in den neuen Versuchen, den Tristanstoff sei es episch, sei es dramatisch|zu behandeln, auch die Eilhartische Tradition, die durch das alte Volksbuch von Tristrant und Isalde vertreten wird, Verwerthung findet, so ist es doch vorzugsweise der Gottfried’sche Tristan, der zur Grundlage und zum Ausgangspunkte der Darstellung genommen wird. — Aber nicht nur stofflich knüpft die Nachwelt an Gottfried's Dichterthätigkeit an; auch sein Ansehen und seine lange währende Beliebtheit bei der Lesewelt zeugen nicht allein für seine machtvolle und fesselnde Begabung. Er wirkte auch lebendig ein auf die Dichterwelt. Gleich seinen Genossen und Vorgängern Hartmann und Wolfram hatte auch er eine Schule. Sein künstlerischer Einfluß war zunächst vortheilhaft und erfreulich. Seine Nachahmer bemühten sich um eine glatte und correcte Sprache und Form. Schädlich aber war die Sucht, es ihm gleichzuthun oder ihn zu überbieten in spielender, manierirt zierlicher Ausdrucksweise, die wir in zahlreichen Dichtungen, selbst in geistlichen, der Epigonenzeit finden. Gottfried's hervorragendste Schüler sind Rudolf von Ems und Konrad von Würzburg. Gottfried's Dichtersprache sollte aber auch in der Neuzeit wieder zur Geltung kommen, nachdem nach langem Schlummer die altdeutsche Dichtung wieder erweckt worden ist. Bei manchen Tristandichtern der Neuzeit finden wir öfters leisere oder stärkere Anlehnung an Gottfried's Worte. Aber auch einzelne Dichter, wie namentlich Wilhelm Hertz und Rudolf Baumbach, haben sich offenbar an ihm geschult und danken seinem glänzenden Vorbilde den Fluß und die Pracht ihrer Sprache.

    • Literatur

      Gottfried's Tristan in Myller's Sammlung 1785 (mit Heinrich v. Freiberg). — Ausgabe von E. v. Groote. Berlin 1821 (mit Ulrich v. Türheim). —
      Ausgabe von F. H. v. der Hagen. Breslau 1823 (mit Ulrich und Heinrich, mit den Liedern und alten französischen, englischen (Sir Tristrem), wallisischen und spanischen Gedichten von Tristan und Isolde. —
      Ausgabe von H. F. Maßmann. Leipzig 1843 (mit Ulrich). —
      Ausgabe von Reinhold Bechstein. 3. Aufl. 1890. 1891 (mit kurzer Nacherzählung der drei Fortsetzungen). —
      Ausgabe von Wolfgang Golther (mit Nacherzählung des von G. nicht bearbeiteten Schlusses nach Thomas, der Saga und Sir Tristrem, wie mit Nacherzählungen nebst Textauszügen nach Ulrich und Heinrich). —
      Uebersetzungen: von Hermann Kurz (mit eigenem Schlusse). 3. Aufl. Stuttgart 1877; von Karl Simrock. Leipzig 1855. 2. mit Fortsetzung und Schluß vermehrte Aufl. das. 1875; von Wilhelm Hertz (Neubearbeitung) mit Ergänzung nach den altfranzösischen Tristanfragmenten des Trouvere Thomas. —
      Die lyrischen Stücke, die echten wie die untergeschobenen, in v. d. Hagen's Minnesingern II, 266 fg. u. III, 454 fg. — Die übrige sehr reiche Litteratur in Aug. Koberstein's Geschichte der deutschen Nationallitteratur, 6. Aufl. von K. Bartsch, 1. Band (1884). namentlich S. 176—178; in W. Wackernagel's Geschichte d. deutschen Litteratur, 2. Aufl. von Ernst Martin, 1. Bd. (1879), 249. 313 (Nachtr. 464); in K. Goedeke's Grundriß z. Geschichte d. deutschen Dichtung, 2. Aufl., 1. Bd. (1884), 99 fg. (Nachtr. S. 488); in der Einleitung zu Bechstein's Ausgabe und im Nachtrage am Schlusse.

  • Autor/in

    R. Bechstein.
  • Zitierweise

    Bechstein, Reinhold, "Gottfried" in: Allgemeine Deutsche Biographie 36 (1893), S. 502-506 [Online-Version]; URL: https://www.deutsche-biographie.de/pnd118540947.html#adbcontent

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