Guttmann, Ludwig
Guttmann, Ludwig
1899 – 1980
Gehirnchirurg, Begründer der Paralympischen Spiele
- Lebensdaten
- 1899 – 1980
- Geburtsort
- Tost (Oberschlesien, heute Toszek, Polen)
- Sterbeort
- Aylesbury (Buckinghamshire, Großbritannien)
- Beruf/Funktion
- Gehirnchirurg ; Begründer der Paralympischen Spiele ; Arzt
- Konfession
- jüdisch
- Normdaten
- GND: 129293555 | OGND | VIAF: 108812296
- Namensvarianten
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- Guttmann, Ludwig
- Gutmann, Ludwig
Biografische Lexika/Biogramme
Quellen(nachweise)
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Ludwig Guttmann widmete sich intensiv der Behandlung rückenmarksverletzter Patienten und war überzeugt, dass sportliche Betätigung eine große Bereicherung für deren Leben darstelle. Sein unermüdlicher Einsatz für diese Patientengruppe führte zur Entstehung der mittlerweile weltweit bekannten Paralympischen Spiele, als deren Gründungsvater Guttmann gilt. Als Jude in Deutschland verfolgt, lebte er seit 1939 im Exil in Großbritannien.
Lebensdaten
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Lebenslauf
3. Juli 1899 - Tost (Oberschlesien, heute Toszek, Polen) -
Genealogie
Vater Bernhard Guttmann Schnapsbrenner, Veteran; ermordet im KZ Auschwitz Mutter Dorothea Guttmann ermordet im KZ Auschwitz Geschwister drei Schwestern alle ermordet im KZ Auschwitz Heirat 10.4.1927 Ehefrau Else Guttmann, geb. Samuel Sohn Dennis Guttmann geb. vor 1931 Dr. med.; Gynäkologe Tochter Eva Loeffler, geb. Guttmann geb. 1935 Physiotherapeutin Diese Grafik wurde automatisch erzeugt und bietet nur einen Ausschnitt der Angaben zur Genealogie.Guttmann, Ludwig (1899 – 1980)
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Vater
Bernhard Guttmann
Schnapsbrenner, Veteran; ermordet im KZ Auschwitz
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Mutter
Dorothea Guttmann
ermordet im KZ Auschwitz
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Heirat
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Ehefrau
Else Guttmann
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Biografie
Guttmann wuchs in behüteten Verhältnissen in Tost (Oberschlesien, heute Toszek, Polen), seit 1902 in Königshütte (Oberschlesien, heute Królewska Huta, Polen) auf. Nach dem Abitur am dortigen Humanistischen Gymnasium und anschließendem Kriegsdienst studierte er von 1918 bis 1924 Humanmedizin an den Universitäten Breslau, Freiburg im Breisgau und Würzburg und wurde 1924 in Freiburg approbiert, bevor er seine ärztliche Laufbahn im Städtischen Wenzel-Hancke-Krankenhaus unter der Leitung des Neurologen und Neurochirurgen Otfrid Foerster (1873–1941) aufnahm. Nach zwischenzeitlicher Beschäftigung als Oberarzt an der Staatskrankenanstalt Friedrichsberg in Hamburg 1928/29 kehrte Guttmann auf Vermittlung Foersters, mit dem ihn eine enge kollegiale und freundschaftliche Beziehung verband, als Leitender Oberarzt an das Wenzel-Hancke-Krankenhaus zurück. Nachdem die Behandlung „arischer“ Patienten durch jüdische Ärzte 1933 untersagt worden war, war Guttmann trotz mehrfacher Intervention Foersters gezwungen, das Krankenhaus zu verlassen, und übernahm die Leitung des Israelitischen Krankenhauses in Breslau (heute Wrocław, Polen). Während der Novemberpogrome am 9./10. November 1938 ordnete er die Aufnahme aller schutzbedürftigen Menschen in das Israelitische Krankenhaus an und musste sich hierfür vor der Gestapo verantworten. Obwohl es anhand teils erfundener Anamnesen gelang, etliche dieser Menschen zu retten, wurden vier von diesen sowie zwei Ärzte verhaftet und in Konzentrationslager verschleppt. Guttmann und seine Ehefrau flohen 1939 mit Unterstützung des Council for Assisting Refugee Academics (CARA) nach England. Seine Eltern und Schwestern wurden in Auschwitz ermordet.
Weil Guttmanns berufliche Qualifikation als Arzt in England zunächst nicht anerkannt wurde, war er als wissenschaftlicher Angestellter an der Abteilung für Neurochirurgie am Radcliffe Infirmary in Oxford unter Sir Hugh Cairns (1896–1952) tätig, wo er sich vornehmlich mit Verletzungen des Rückenmarks bzw. deren Behandlung an Versuchstieren beschäftigte. In Vorbereitung auf die Invasion der Alliierten in der Normandie und der damit verbundenen Befürchtung zahlreicher rückenmarksverletzter Soldaten beschloss die britische Regierung, ein Militärlazarett, das Stoke-Mandeville Krankenhaus in Aylesbury, zum Krankenhaus für Rückenmarksgeschädigte umzufunktionieren (seit 1952 National Spinal Injuries Centre). 1943 bestellte sie Guttmann, der sich durch Vorträge und wissenschaftliche Publikationen als ausgewiesener Spezialist für Neurochirurgie etabliert hatte, zum Leiter der Abteilung für Rückenmarkverletzte (Ruhestand 1967). In dieser Funktion revolutionierte Guttmann die Behandlung der rückenmarksverletzten Patienten grundlegend: Der bis dahin vertreten Lehrmeinung, dass Patienten nach Rückenmarksverletzungen nicht bewegt werden dürfen, widersprach Guttmann ausdrücklich und ordnete an, die Patienten alle zwei Stunden von der Bauch- in die Rückenlage zu drehen, um das Auftreten von Druckgeschwüren zu reduzieren. Die bis dahin verwendeten Metall-Bettpfannen ließ Guttmann durch Gummi-Bettpfannen ersetzen. Zudem widersprach er der angewandten suprapubischen Zystostomie (Bauchdeckenkatheter) und propagierte die sofortige, ärztlich durchgeführte Katheterisierung in strikt aseptischem Umfeld. Mit dieser Behandlung steigerte er die Lebenserwartung von Patienten nach spinalem Trauma im Durchschnitt von zwei bis drei Jahren auf mehrere Jahrzehnte. Von 1961 bis 1970 stand Guttmann als Präsident der von ihm gegründeten International Medical Society of Paraplegia (heute International Spinal Cord Society) vor und war Herausgeber von deren Organ „Paraplegia“ (heute „Spinal Cord“).
Guttmann, der sich lebenslang mit der Behandlung und Rehabilitation sowie den physischen wie psychischen Bedürfnissen von Patienten mit Rückenmarksverletzungen beschäftigte, wies als erster die Vorteile von sportlicher Betätigung für die Therapie nach. Trotz Vorbehalten zahlreicher Wissenschaftler und Angehöriger von Patienten organisierte und leitete er seit 1948 die so genannten Stoke-Mandeville Games, die jährlich größeren Zulauf erhielten. 1960 in Paralympics umbenannt, finden diese seither im Jahr der Olympischen Spiele im jeweiligen Gastgeberland als internationale Veranstaltungen statt.
Im Rahmen der ersten Austragung der Paralympics 1960 in Rom würdigte Papst Johannes XXIII. (1881–1963) den unermüdlichen Einsatz Guttmanns mit einer Audienz und nannte ihn den „Pierre de Coubertin der Behinderten“. 1966 von Queen Elizabeth II. (1926-2022) zum Knight Bachelor geschlagen, wurde sein Engagement für Rückenmarksverletzte und den Behindertensport bis zu Guttmanns Lebensende mit einer Vielzahl an nationalen und internationalen Auszeichnungen gewürdigt.
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Auszeichnungen
1950 Order of the British Empire (Commander 1960) 1957 Order of Saint John 1961 Fellow of the Royal College of Physicians 1962 Fellow of the Royal College of Surgeons 1965 Institut Guttmann, Barcelona (erste Rehabilitationsklinik für Querschnittsgelähmte in Spanien) 1966 Ludwig-Guttmann-Haus, Klinik für Paraplegiologie im Universitätsklinikum Heidelberg 1966 Knight Bachelor 1972 Großes Verdienstkreuz mit Stern des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland 1972 Ludwig Guttmann Spinal Cord Injury Unit at the Sheba Medical Centre, Tel Hashomer (Israel) 1981 Mitglied der International Jewish Sports Hall of Fame 1981 Sir Ludwig Guttmann Lecture der International Spinal Cord Society (seit 2004 jährlich) 1989 Ludwig-Guttmann-Preis der Deutschsprachigen Medizinischen Gesellschaft für Paraplegiologie (jährlich) 2008 Ludwig Guttmann Schule, Karlsbad (Baden) 2014 Mitglied der Hall of Fame des Deutschen Sports 2019 National Paralympic Heritage Centre at Stoke Mandeville Straßenbenennungen, u. a. in Ludwigshafen am Rhein, Heidelberg, Karlsbad (Baden), Tost -
Quellen
Nachlass:
Privatbesitz.
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Werke
Über die Tumoren der Trachea, 1923. (Diss. med. Freiburg im Breisgau)
Die Schweisssekretion des Menschen in ihren Beziehungen zum Nervensystem, in: Zeitschrift für die gesamte Neurologie und Psychiatrie 135 (1931), S. 1–48. (Habilitationsschrift)
Motorische und vegetative Grenzzonenreflexe bei Läsionen peripherer und zentraler Abschnitte des Nervensystems, in: Zeitschrift für die gesamte Neurologie und Psychiatrie 147 (1933), S. 291–307.
Otfried Foerster/Ludwig Guttmann, Cerebrale Komplikationen bei Thrombangiitis obliterans, in: Archiv für Psychiatrie und Nervenkrankheiten 100 (1933), S. 506–511.
The Management of the Quinizarin, 1943.
The Place of Our Spinal Paraplegic Fellow-Man in Society. A Survey on 2000 Patients, 1959.
Franz Karl Kessel/Ludwig Guttmann/Georg Maurer, Verletzungen der Wirbelsäule und des Rückenmarks. Verletzungen der peripheren Nerven, 1971.
Spinal Cord Injuries. Comprehensive Management and Research, 1973.
Sport and Recreation for the Mentally and Physically Handicapped, in: The Journal of the Royal Society for the Promotion of Health 93 (1973), S. 208–221.
Textbook of Sport for the Disabled, 1976, dt. Sport für Körperbehinderte, 1979.
Herausgeberschaft:
Journal of Paraplegia, seit 1963, seit 1996 u. d. T. Sinal Cord. (von Guttmann begründet)
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Literatur
Klaus Joachim Zülch, Otfrid Foerster. Arzt und Naturforscher, 1966.
Susan Goodman, Spirit of Stoke Mandeville. The Story of Sir Ludwig Guttmann, 1986. (P)
Herbert A. Strauss/Tilmann Buddensieg/Kurt Düwell, Emigration. Deutsche Wissenschaftler nach 1933. Entlassung und Vertreibung, 1987.
Joan Scruton, Stoke Mandeville. Road to the Paralympics, 1998. (P)
Peter Longerich, Politik der Vernichtung. Eine Gesamtdarstellung der nationalsozialistischen Judenverfolgung, 1998, S. 42 u. 600.
Elisabeth Schültke, Ludwig Guttmann. Emerging Concept of Rehabilitation after Spinal Cord Injury, in: Journal of the History of the Neurosciences 10 (2001), H. 3, S. 300–307. (P)
Miriam Rürup, Ehrensache. Jüdische Studentenverbindungen an deutschen Universitäten 1886–1937, 2008.
Mark H. Gelber/Jakob Hessing/Robert Jütte, Integration und Ausgrenzung. Studien zur deutsch-jüdischen Literatur- und Kulturgeschichte von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart, 2009.
Daniel Westermann, Sir Ludwig Guttmann und seine Sportidee, in: Daniel Westermann, Die XXI. Weltspiele der Gelähmten in Heidelberg 1972. Entstehungsgeschichte und Ablauf, 2014, S. 33–54. (P)
Hartmut Collmann/Daniel Dubinski/Ulrike Eisenberg, Verraten – Vertrieben –Vergessen. Werk und Schicksal nach 1933 verfolgter deutscher Hirnchirurgen, 2017. (P)
Patrick Welter, Mit sechs kriegsversehrten deutschen Sportlern. Längst vergessen: 1964 war Japan mit seinen paralympischen Spielen der Zeit voraus, in: FAZ v. 30.8.2021, Nr. 200, S. 32.
Amir Wechsler, Vater der Paralympics. Ludwig Guttmann entdeckt den Sport als Lebensretter, in: FAZ v. 6.9.2021, Nr. 206, S. 32. (P)
Lexikonartikel:
Werner Röder/Herbert A. Strauss (Hg.), Art. „Guttmann, Ludwig“, in: dies., Biographisches Handbuch der deutschsprachigen Emigration nach 1933, Bd. 2, 1983, S. 442 f.
Joseph Walk (Hg.), Art. „Guttmann, Ludwig“, in: Kurzbiographien zur Geschichte der Juden 1918–1945, 1988, S. 442–456.
Dokumentarfilm:
The Best of Men, BBC 2012. (Onlineressource)
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Onlineressourcen
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Porträts
Bronzestatue v. Jacko (Mark Jackson), 2013, vor dem Stoke Mandeville Hospital, Stoke Mandeville (Großbritannien).
Gemälde (Öl/Leinwand) im Stoke Mandeville Stadium, Stoke Mandeville (Großbritannien).
Büste im National Paralympic Heritage Center im Stoke Mandeville Stadium, Stoke Mandeville (Großbritannien).
Briefmarke der Russischen Post, 2013.
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Autor/in
→Daniel Dubinski (Rostock)
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Zitierweise
Dubinski, Daniel, „Guttmann, Ludwig“ in: NDB-online, veröffentlicht am 01.01.2023, URL: https://www.deutsche-biographie.de/129293555.html#dbocontent